Wir wiegen uns hier in Sicherheit, weil die Politik dieses Landes ihre Schandtaten nach außen delegiert

37. Plenarsitzung der Stadtverordnetenversammlung am 7. November 2019

Tagesordnungspunkt 10: Resolution: Wir schweigen nicht zum völkerrechtswidrigen Krieg des NATO-Mitglieds Türkei

Stadtverordnetenvorsteher Stephan Siegler:

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10., Krieg in Nordsyrien, auf. Kleiner Hinweis: Der Audiostream ist seit mehr als einer Dreiviertelstunde aus Gründen, die wir hier in der Stadtverordnetenversammlung nicht zu vertreten haben, außer Betrieb, das heißt, wir diskutieren nur noch unter uns.

Zum Thema Krieg in Nordsyrien behandeln wir die Vorlage NR 1009 der LINKE.‑Fraktion. Die LINKE.‑Fraktion hat den Antrag zur Tagesordnung I gestellt. Gibt es Wortmeldungen?

(Zurufe)

Nein, das ist die Erstanmeldung. Die Zweitanmeldung war die zum Tagesordnungspunkt 9. Wenn es die Zweitanmeldung wäre, wäre die Anmeldung der FRAKTION nämlich vor der Zweitanmeldung der LINKE.‑Fraktion. Alle Unklarheiten beseitigt?

Die erste Wortmeldung kommt von Frau Ayyildiz von der LINKE.‑Fraktion. Bitte schön!

Stadtverordnete Merve Ayyildiz, LINKE.:

Sehr geehrter Herr Stadtverordnetenvorsteher!

Am 9. Oktober hat der türkische Staat unter dem Faschisten Erdogan einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg im Schulterschluss mit dschihadistischen Milizen auf die kurdische Selbstverwaltung in Syrien in Rojava gestartet. Erdogan hat schon lange zuvor mit seinen Kriegsabsichten gedroht, die durch den Abzug amerikanischer Truppen einen Freifahrtschein zur Umsetzung bekommen haben. Vor den Augen der Welt ist seit einem Monat ein Invasionskrieg im Gange, der sich gegen die Freiheit, die Menschenwürde und die Emanzipation stellt. Schon im Januar 2018 hat Erdogan seine Grenzen und seine Macht getestet, als er die Stadt Afrin angriff und zahlreiche Menschen getötet und aus ihrer Region vertrieben hat. Afrin steht seitdem unter türkischer militärischer Besatzung und gilt als Auffangbecken für dschihadistische Milizen. Im Jahre 2014 hat die Weltöffentlichkeit große Erleichterung erlebt, als YPG und YPJ – die kurdischen Befreiungseinheiten und die Frauenbefreiungseinheiten – den Völkermord an den Jesidinnen und Jesiden unterbunden haben und den IS besiegten. Sie beschützen die heterogene Bevölkerungsstruktur und alle darin lebenden Minderheiten gegen den IS, befreiten ganze Städte von dessen Terror und sind für Millionen von Menschen in der Region ein Garant für Sicherheit sowie für ein friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben.

Letzte Woche hatten wir einen diplomatischen Vertreter Rojavas zu Gast in unserer Fraktion, dessen Ausführungen von mehreren Fraktionen dieses Hauses angehört wurden: Achmed Sheikho hat uns erläutert, dass der gemeinsame Kampf des türkischen Militärs und der dschihadistischen Paramilitärs nicht nur die Strukturen der kurdischen Region in prekäre Verhältnisse setzt, sondern existenziell bedroht. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg hat die Absicht, die Errungenschaften der Kurdinnen und Kurden zu vernichten und sie ihres Selbstbestimmungsrechtes zu berauben. Der türkische Staat hat sich als Ziel gesetzt, die in Rojava lebenden Menschen kurdischer, arabischer, turkmenischer, assyrischer, armenischer und jesidischer Herkunft zu vertreiben. Dadurch sollen die Grenzen der Türkei nach Syrien verlagert werden, um unter dem Tarnmantel der Flüchtlingsumsiedlung die Milizien dort anzusiedeln, wie es in Afrin schon geschehen ist und somit den IS in der Region als Partner gegen Kurdistan zu stärken. Erdogan möchte die Region destabilisieren. Sein Ziel ist die Kontrolle der Region, um nicht nur militärischen und politischen, sondern vor allem wirtschaftlichen Interessen nachzukommen. Er kann sich durch diesen Krieg nicht nur als Held für seine faschistische Anhängerschaft stilisieren, sondern gleichzeitig auch die Güter Kurdistans ausbeuten, wie die Landwirtschaft und das Erdölaufkommen. Der Angriffskrieg betrifft die gesamte türkisch-syrische Grenze auf beiden Seiten. Die Wasserversorgung, die Stromzufuhr, Wohnhäuser, Krankenhäuser und Schulen werden bombardiert, Zivilistinnen und Zivilisten massakriert. Mit der Rückendeckung türkischer Truppen werden Kämpfer des IS aus der kurdischen Gefangenschaft befreit. Die Co‑Vorsitzende Cemila Heme des kurdischen Roten Halbmonds beschreibt die aktuelle Lage folgendermaßen: „Wir haben die Menschheit vor dem IS beschützt. Andere haben Gesetze gemacht, die Menschen und Krankenhäuser im Krieg schützen sollen und nun sind sie es, die die Gesetze nicht befolgen – es brennen unsere Krankenhäuser, sie greifen die Krankenwagen an, ermorden unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und werfen sie in die Kanalisation.“

Die Anzahl der geflohenen Menschen schätzt sie auf über 300.000. Viele fliehen Richtung Süden, das Gesundheits- und Versorgungssystem steht durch diese massive Belastung kurz vor dem Zusammenbruch. Die Menschen suchen Unterschlupf in Wohnungen und Schulen. Derzeit werden 86.000 Kinder daran gehindert, zur Schule zu gehen. Auch die angekündigte Waffenruhe existierte de facto nicht. Hierzu hat der Arzt Michael Wilk aus Wiesbaden berichtet. Er ist regelmäßig zur Unterstützung der medizinischen Versorgung in die kurdischen Gebiete gegangen. „Es gab keine Waffenruhe. Wir hatten die ganze Zeit über Schwerverletzte, Sterbende, auch Tote – sowohl unter den Selbstverteidigungskräften als auch unter der Zivilbevölkerung.“ Einen Einblick in die Grausamkeiten gibt uns der Bericht des schwedisch-iranischen Arztes Abbas Mansouran, der als Freiwilliger in Rojava arbeitet. Er hielt fest, dass in Rojava weißer Phosphor und andere unbekannte Chemikalien eingesetzt worden sind. Weißer Phosphor brennt sich in den Körper bis in die Knochen ein. Dort verursacht er schwere, oft tödliche Verbrennungen. Phosphor brennt auch dann weiter, wenn der gesamte Körper gereinigt wurde, sobald er Sauerstoff ausgesetzt ist. Allein das Einatmen des Phosphorrauchs hat tödliche Verletzungen der Atemwege zur Folge und schädigt sowohl das Herz, die Leber als auch die Nieren. Es geht der türkischen Regierung nicht um die Sicherung von Grenzen, sondern um die Zerstörung Rojavas. In dem Zusammenhang ist es unerträglich, dass Bundeskanzlerin Merkel mehrfach in ihren Erklärungen von einem berechtigten Sicherheitsinteresse der Türkei gesprochen hat.

(Beifall)

Es gibt keine Legitimation für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Rojava. Der Krieg vor Ort wird mit deutschen Waffen und Panzern ausgetragen, mit deutschem Wissen von Krieg und Kriegsstrategie durchgeführt. Den Höchststand der Waffenexporte in die Türkei verzeichnen wir in diesem Jahr, der bei über 250 Millionen Euro liegt. Die Bundesregierung spricht zwar von Lieferungsstopps, doch diese hätten maximal in fünf bis zehn Jahren reale Auswirkungen auf die Rüstungssituation bei kontinuierlichem Aufrechterhalten des Waffenlieferungsstopps. Aktuelle Aufnahmen aus Nordsyrien zeigen die Terrorgruppe Jaish al-Islam gemeinsam mit der türkischen Armee und deutschen Leopard 2‑Panzern. Scheinheilig bekundet die Bundesregierung, den Dschihadismus zu bekämpfen und gleichzeitig unterstützen sie ihn durch das AKP-Regime politisch und militärisch.

Deutschland steht durch seine Rüstungs- und Asylpolitik in einem Abhängigkeitsverhältnis mit der Türkei, da es Erdogan seit dem menschenverachtenden Flüchtlingsabkommen als Außengrenze Europas brauchen, um die Abschottung Europas zu sichern. Gleichzeitig wird die kurdische Bewegung in Deutschland kriminalisiert, so wie bei friedlichen Demonstrationen in den letzten Wochen, auf die mit Polizeigewalt geantwortet wurde. Ebenfalls erreichen Menschen in Deutschland aktuell Anklageschriften, da Deutschland Rechtsangelegenheiten aus der Türkei durch die deutsche Justiz ausführt. Es ist mir unverständlich, wie dieser Staat diejenigen, die hier Schutz vor dem Regime in der Türkei gesucht haben, im Namen der Türkei juristisch verfolgt und das Unrechtsystem Erdogans hier durchsetzen will. Die Bundesregierung macht sich als Unterstützer der Türkei mitverantwortlich für die Kriegsverbrechen, wie der Aggressor selbst.

Solidarität mit Rojava bedeutet die Erhaltung der Frauenbefreiung, des friedlichen Zusammenlebens und der Weiterentwicklung von Ökologie und Demokratie in den kurdischen Gebieten Syriens. Solidarität ist international und Frankfurt als internationale Stadt, in der alle friedlich zusammenleben, kann ein Signal an die Menschen in Rojava senden und gleichzeitig eine Haltung gegenüber der Bundesregierung einnehmen. Wir reden hier stundenlang von der Paulskirche, von Demokratie gestern, heute und morgen, doch Sie missachten Orte der Demokratie wie Rojava, die trotz Kriegen immer wieder aufgebaut werden. Wir tragen als Teil der Bundesrepublik eine humanitäre Verantwortung und müssen dieser gerecht werden. Unsere Resolution ist nur ein minimaler Beitrag, denn praktische Solidarität würde bedeuten, dass man diese Stadt Rojava beim Wiederaufbau und bei der Versorgung medizinisch und materiell unterstützt. Ich rede hier nicht, um Sie zu bekehren. Ich rede für die Menschen auf Frankfurter Straßen, die sich zusammenschließen und uns den wesentlichsten aller Ansprüche stellen, nämlich Solidarität aus demokratischer Ãœberzeugung heraus für die Menschenwürde, für das Menschenleben. Wir wiegen uns hier in Sicherheit, weil die Politik dieses Landes ihre Schandtaten nach außen delegiert und gleichzeitig an diesen Kriegen verdient. Doch es ist das deutsche Kapital, das die Angehörigen kurdischer Frankfurterinnen und Frankfurter ermordet und es sind deutsche Politikerinnen und Politiker, die sowohl mitpfuschen als auch weggucken. Sie alle sind mitverantwortlich für das, was diese Stadt, dieses Land im Gesamtkontext veranlasst und was nicht. Das Mindeste ist hier, eine Haltung zu haben. Mit der Ablehnung unserer Resolution nehmen Sie eine Haltung ein, die zeigt, wie einseitig Ihre Politik ist und dass Sie nicht für alle Frankfurterinnen und Frankfurter hier sitzen, sondern nur für die, deren Leben Ihnen etwas wert ist. Sie verraten die Menschen, denen Sie vorheucheln, für Werte einzutreten, während Sie Ihnen gleichzeitig sagen: „Aber für dich nicht!“ Ich schäme mich für die deutsche Politik und es ist absurd, dass Sie nicht einmal mehr ein Schamgefühl besitzen, sondern so abgestumpft über das Menschenleben hinweg entscheiden, darüber hinaus für ein faschistisches Regime wie in der Türkei die Menschen in dieser Stadt kriminalisieren und vor Gericht ziehen. Es lebe der Widerstand in Rojava! – Bijî berxwedana Rojava!

Danke schön!

(Beifall)

Hier können Sie die Rede als PDF-Datei herunterladen.

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