Es gibt kein Zurück zum Davor

44. Plenarsitzung der Stadtverordnetenversammlung am 7. Mai 2020

Tagesordnungspunkt 5: Kompetenz-Zuordnung der HGO gilt auch in der Corona-Krise!

Stadtverordnetenvorsteher Stephan Siegler:

Vielen Dank, Herr Stadtrat! Während wir unser übliches Corona-Päuschen machen, lese ich einfach einmal vor, wessen Wortmeldezettel ich hier liegen habe. Das ist Herr Kliehm, Herr Dr. Kößler, Frau auf der Heide, Frau Busch und Herr Zieran. Da kommt noch ein sechster Wortmeldezettel von Herrn Schenk dazu.

Bitte schön, Herr Kliehm!

Stadtverordneter Martin Kliehm, LINKE.:

Sehr geehrte Damen und Herren!

Erst einmal vielen Dank an Stefan Majer, der mir, trotz der Länge, aus der Seele gesprochen hat, der viel Richtiges gesagt hat. Ich bin am Anfang ein bisschen zusammengezuckt, als ich den Oberbürgermeister und Herrn Dr. Kößler gehört habe, die schon in der Vergangenheitsform sprachen. Aber Tatsache ist ja, dass das alles noch lange nicht vorbei ist. Wir lernen jeden Tag alle etwas dazu, mit Ausnahme von Herrn Schenk, der noch im Januar verblieben ist.

(Zurufe)

Herr Schenk hat gelernt, einmal im Januar zuzuhören und danach abzuschalten. Anselm Weber – da komme ich auch gleich dazu, wie wichtig Kultur in dieser Krise ist -, der Intendant des Schauspiel Frankfurt, hat es so zusammengefasst: „Die Krise funktioniert wie eine Lupe. Sie vergrößert alles. Egomanen werden noch egoistischer. Verrückte noch verrückter.“ Von daher ist es wichtig, gerade diesen gesundheitlichen Aspekt von Herrn Majer zu hören. Sie haben es gerade angesprochen. Wichtig ist vor allem in Zukunft die Nachverfolgung der Infektionsketten. Danke, dass Sie das schon beantwortet haben. Das war auch eine von unseren kleinen Anfragen. Denn die Bundesregierung sagte pro 20.000 Einwohner bräuchte man fünf Personen in der Verwaltung, um das nachzuverfolgen. Das wären für Frankfurt sage und schreibe 188 Personen. Herr Majer sagt jetzt, es reichen 80 Personen. Was ich in dem Fall aber einmal zu bedenken geben muss, ist der Flughafen Frankfurt, der bisher nur in Sachen Arbeitsplätze kam. Der Flughafen Frankfurt gehört zum Stadtgebiet Frankfurt. Ich frage mich, was ist eigentlich mit den Ankommenden am Flughafen, die eigentlich jetzt in 14‑tägige Hausquarantäne müssten? Von denen, die dort angekommen sind, habe ich bisher noch nicht gehört, dass sie in irgendeiner Form beraten worden wären oder dass dort Infektions …

(Zurufe)

Herr Majer widerspricht. Okay, dann ist das eine neue Information für mich. Vielen Dank! Dann ist das auch geklärt.

Die Stadt Frankfurt und der Magistrat haben in vielen Bereichen dazugelernt. Das muss ich der Fairness halber auch einmal sagen. Es wurden 45.000 Masken an Schulen zur Verfügung gestellt. Es brauchte erst eine Pandemie, bis in den Schulen Seifenspender und Papierhandtücher aufgefüllt wurden. Das ist eigentlich nicht sehr lustig. Das ist eigentlich ernst, dass dieser Hygienezustand in den Schulen bisher so katastrophal war. Es wurde auch relativ schnell dazugelernt, was die Digitalisierung angeht. Da muss noch einiges geschehen. Die Digitalisierung in Frankfurt erfährt einen dramatischen Anschub. Selbst bei der Stadt Frankfurt. Man kann jetzt immerhin seine E‑Mails von zu Hause abrufen. Aber zum Beispiel der Zugang über VPN ist noch zu gering ausgeprägt. Da hat die Stadt Frankfurt einfach jahrelang geschlafen. Da ist jahrelang nichts passiert. Homeoffice ist jetzt auf einmal in aller Munde. Das wäre etwas, was auch im Zuge von einer Work‑Life‑Balance viel mehr gefordert sein müsste, dass Menschen in der Lage sein müssen, wenn sie es können, wenn sie es wünschen, auch von zu Hause arbeiten zu können.

Die digitale Spaltung sehen wir auch in den Schulen, die jetzt so langsam wieder anlaufen. Da lese ich mal etwas vom Friedrich‑Dessauer‑Gymnasium in Frankfurt vor. Da berichtet eine Schülerin: „Aufgrund der 15‑Personen‑pro‑Raum‑Abstandsregel haben wir unseren Englisch‑Leistungskurs in zwei Gruppen geteilt. Diese Gruppen sitzen jeweils in einem Raum, mit Abstand, und deshalb muss unser Lehrer mit einer Bluetoothbox über Telefon mit uns kommunizieren. Nicht nur die Unterrichtsqualität durch die Audioqualität und das Fehlen von Tafelbildern wird gemindert, es ist der Gruppe, die in dem Raum mit der Box sitzt, unmöglich, sich überhaupt am Unterricht zu beteiligen.“ Sie fragt: „Inwiefern soll diese Unterrichtsform jetzt besser sein, als die Gespräche und Konferenzen auf Zoom, die wir zuvor hatten? Da konnte ich mich nicht anstecken und habe auch verstanden, was der Lehrer sagt.“ Da fällt hinein, dass die Stadt Frankfurt auf ihren Computern bislang Video deaktiviert hatte. Zoom, haben sie gesagt, da müssen sich die Lehrkräfte selbst mit auseinandersetzen, ob das gemäß den hessischen Datenschutzrichtlinien überhaupt zulässig wäre. Da sehe ich noch ein großes Defizit, wo die Lehrkräfte allein gelassen werden, wo zum Beispiel unser IT‑Dezernent für die nötige Infrastruktur oder die Versorgung von den Schülerinnen und Schülern mit Tablets sorgen könnte, oder dass die Stadt Frankfurt selbst wie die Uni Frankfurt zum Beispiel ein Videostreaming einrichtet. Es gibt verschiedene Open-Source-Projekte, bei denen das relativ einfach geht. Da sehe ich noch viel Handlungsbedarf.

Wo ich auch noch große Lernfähigkeit sehe, ist im Verkehrsbereich. Klaus Oesterling ist heute nicht da. Aber es hat mich doch sehr verwundert, dass jetzt über die Wiedereröffnung des Mainkais für den Autoverkehr gesprochen wird, während alle Städte genau das Gegenteil machen. Berlin, Bogotá, Brüssel, Budapest, London, Mexico City, New York, Oakland, Philadelphia – alle sperren momentan Straßen, um Raum für soziale Distanz zu schaffen, teilweise 120 Kilometer in sämtlichen Stadtteilen. Brüssel führt jetzt gerade im Stadtzentrum Tempo 20 ein, damit Menschen – Fußgänger und Radfahrende – auf die Straße ausweichen können und nicht totgefahren werden. Was passiert in Frankfurt? Wir diskutieren darüber, den Mainkai wieder aufzumachen. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Ãœberall in der Welt gibt es jetzt auf einmal Pop‑up-Radspuren. Nicht in Frankfurt. Da wird gesagt, dass es ja genügt, dass wir den Radentscheid haben und ein paar rote Linien auf die Straße malen. Es geht aber auch gerade in Berlin zum Beispiel, dass man dort gelbes Absperrband macht, auf die Straße Hütchen aufstellt, dass für das veränderte Verkehrsverhalten dort Raum geschaffen wird. Was sagt die CDU? Deren stellvertretender Kreisvorsitzender Martin‑Benedikt Schäfer stellt auch einen deutlichen Rückgang des Verkehrs fest. Aber seine Schlussfolgerung daraus ist: Lasst uns doch einmal die Straßen ausbessern, damit es nach der Krise so weitergeht wie vorher. Währenddessen wird auf Bundesebene über eine Abwrackprämie zum Neukauf von Verbrennern nachgedacht, während die Automobilunternehmen Dividendenausschüttungen planen. Lassen Sie uns doch einmal auf den Balkon stellen und für die Automobilindustrie klatschen, und lassen Sie uns die Milliarden, die dafür vorgesehen sind, besser für Kitas, Schulen, ÖPNV und Radstreifen aufnehmen. Wir brauchen auch mehr Raum für Cafés und Restaurants. Beispiel dafür ist Vilnius, die gerade aus der gesamten Innenstadt ein großes Freiluftcafé gemacht haben, damit, wenn Straßen gesperrt sind, auch die Restaurants Platz haben, ihre Tische nach draußen zu stellen. Klar ist, dieser Umbruch in unserer Gesellschaft muss zu langfristigen grundlegenden Änderungen führen. Es gibt kein Zurück zum Davor. Die Normalität muss sich ändern. Wir brauchen einen Systemwechsel. Wir brauchen keine linearen Kürzungen im Nachtragshaushalt. Im Gegenteil, wir brauchen ein Konjunkturprogramm, Herr Becker.

Vielen Dank!

(Beifall)

Stadtverordnetenvorsteher Stephan Siegler:

Nur langsam, Herr Kliehm. Wir haben wichtige andere Sachen zwischendurch zu tun. Ich will aber auch noch darauf hinweisen, dass Sie bitte nicht sofort den Saal verlassen, wenn Herr Kliehm fertig ist. Denn es fehlen noch ein paar Voten, bevor die Sitzung beendet werden kann, und die Voten müssen vollständig im Protokoll vermerkt werden.

Bitte schön, Herr Kliehm!

Stadtverordneter Martin Kliehm, LINKE.:

Herr Reschke, ich erkläre es Ihnen noch einmal. Hören Sie bitte auch zu.

(Zurufe)

Mit dem Mainufer hat das damit zu tun, dass man Abstand halten soll. Menschen sollen 1,50 Meter Distanz halten. Sind Sie einmal über die Leipziger Straße oder die Berger Straße dieser Tage gelaufen? Da ist der Fußgängerweg einfach zu schmal. Deswegen ist es kontraproduktiv, wenn man jetzt sagt, es soll eine Straße geöffnet werden, damit die Fußgänger und Radfahrenden weniger Platz haben. Denn das genaue Gegenteil muss erfolgen. Es müssen Straßen dichtgemacht werden, damit Fußgänger und Radfahrende mehr Platz haben. Das ist der Mainkai.

Frau Busch, ich nehme wohl zur Kenntnis, dass die SPD seit 20 Jahren gerne den Mainkai schließen möchte. Aber Klaus Oesterling ist nun einmal derjenige, der sich vor die Presse stellt und sagt: „Wir haben einen Stadtverordnetenbeschluss, dass das Pilotprojekt nur bis August geht, da muss ich den halt wieder aufmachen.“ Dann frage ich mich, wenn die SPD für die Sperrung des Mainkais ist, wenn die GRÜNEN dafür sind wegen des Klimaschutzes und zusätzlich auch noch die Berliner Straße kleiner machen wollen: Sie haben doch die Mehrheit in dieser Koalition, warum spielen Sie da die Marionetten von der CDU? Dann stehen Sie doch dazu und lassen Sie den Mainkai geschlossen. Dann haben alle etwas davon.

Sebastian, du hast vorhin gesagt, die Kultur ist ein Lebensmittel. Da habe ich den Eindruck, dass sehen viele in der Regierung nicht so, insbesondere in der Hessischen Regierung, in der auch die GRÜNEN beteiligt sind. Ich glaube, viele sehen die Kultur eher so als ein Genussmittel an, wie auch die FAZ geschrieben hat. Tatsächlich ist es aber so, wir sehen jetzt gerade, wie wichtig Kultur ist, mit diesen Hauskonzerten, alle schalten rein. Es ist ja auch kostenlos. Was auch wieder den zweiten Punkt verdeutlicht. Nicht alles im Kulturbereich ist zu digitalisieren und insbesondere nicht für Umme und nicht alle können dann komplett nur vom Staat finanziert werden. Womit wir bei dem dritten Punkt in diesem Bereich sind. Dankenswerterweise hat Frau Dezernentin Dr. Hartwig aus ihrem eigenen Topf 200.000 Euro lockergemacht und jetzt noch Spenden eingeworben, um Kulturschaffende in Frankfurt zu unterstützen. Wir hatten schon im März einen Haushaltsantrag dazu, dass das bei Weitem nicht reichen wird. Da haben wir einmal vorsichtig fünf Millionen Euro angesetzt. Wir sehen jetzt, dass diese Prognose genau passt, dass diese gesamten Festivals, die wir im Sommer haben, die auch zur Finanzierung beitragen, wie die Sommerwerft zum Beispiel oder das Stoffelfestival oder die Dramatische Bühne, die auch zur Finanzierung von diesen Institutionen beitragen. Das heißt, da müssen letzten Endes auch in irgendeiner Form diese Institutionen am Leben gehalten werden. Um uns auch nach einer Öffnung im Kulturbereich überhaupt noch zur Verfügung zu stehen, müssen diese Ausfälle auch aufgefangen werden. Das heißt, 200.000 Euro in einem Notfallfonds werden beileibe nicht ausreichen. Wir sehen, wie wichtig Kultur ist für unser tägliches Leben, aber auch für das gesellschaftliche Leben und für den gesellschaftlichen Dialog. Frau auf der Heide hat dankenswerterweise angesprochen, wie auch andere, dass es wichtig ist, jetzt vor allem die verletzbaren, die vulnerablen Gruppen zu schützen, zum Beispiel durch die Kinder- und Jugendhilfe. Dazu hatten wir auch einen Antrag, dass die aufsuchende Kinder- und Jugendarbeit weiterhin stattfinden muss. Denn genau diese Kontrollmechanismen, die in Schulen und in Kitas als Frühwarnsystem Auffälligkeiten sichtbar machen, diese gibt es jetzt nicht. Umso wichtiger ist es, jetzt auch die Kinder- und Jugendhilfe weiter zu unterstützen.

Wir müssen uns auch etliche gesellschaftliche Fragen stellen und deswegen muss sich auch die Normalität ändern. Es wird nicht so weitergehen wie bisher. Es wurde in manchen Redebeiträgen schon klar: Wir müssen eine veränderte Auffassung bekommen, was systemrelevante Berufe sind und wie deren Bezahlung aussieht. Das kann nicht nur ein einmaliger Bonus sein. Das muss dauerhaft sichergestellt werden. In diesem Fall, auch wenn Herr Schmitt im Haupt- und Finanzausschuss schon den Sozialismus hat kommen sehen, bin ich sehr froh über das noch bestehende Gesundheits- und Sozialsystem in Deutschland. Da muss ich nicht den Regierungsparteien danken, denn die haben zum großen Teil zu der Zerstörung beigetragen – gerade von den Sozialsystemen. Ein kleines Beispiel: In Hartz IV ist für die Gesundheitspflege ein Satz von 16,42 Euro im Monat vorgesehen. Im Angebot bei Lidl haben 50 Masken gerade 33 Euro gekostet. Das sind mehr als zwei Monate des Gesundheitspflegesatzes, die alleine für diese 50 Masken draufgehen.

Wir müssen die Klassenunterschiede benennen. Das wurde jetzt deutlich. Es wurde allen möglichen gedankt, die jetzt weiterhin arbeiten. Wir müssen uns fragen, wer kann denn wie arbeiten? Wer hat überhaupt den Luxus, ins Homeoffice gehen zu können? Die, die nicht aus dem Homeoffice arbeiten können: Wie danken wir das denen, auch finanziell? Welches Elternteil bleibt zu Hause? Wer kümmert sich um die Kinder? Frau auf der Heide hat es gesagt, das sind nun einmal überwiegend die Frauen. Im Hinblick auf die ganzen Lockerungen müssen wir fragen, wenn freitags die Information kommt, dass montags wieder die Schulen aufgemacht werden, wer kann denn so kurzfristig reagieren? Oder teilweise gibt es dann diese Modelle, dass manche Schülerinnen und Schüler vormittags in die Schule gehen und manche nachmittags. Wie soll denn eine Familie mit mehreren Kindern das in irgendeiner Form bewerkstelligen? Das sind die Fragen, die wir uns stellen müssen. Wir müssen uns fragen, welches Arbeitsmodell möchten wir in Zukunft haben? Wer arbeitet in Erziehung und Pflege? Bildungsgerechtigkeit an Schulen wurde schon angesprochen und vieles mehr. Ich glaube, wir können nach der Krise, wenn der Impfstoff da ist, nicht einfach so weitermachen. Wir können auch nicht einfach den Flughafen wieder aufmachen und dort mehr Verkehr fordern. Denn natürlich ist auch die Klimafrage bedeutend. Das wird die Nächste sein, der wir uns dann stellen müssen.

Danke sehr!

(Beifall)

Hier können Sie die Rede als PDF-Datei herunterladen.

Dieser Beitrag wurde unter Martin Kliehm veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.
Nach oben