Ein verlässlicher Sozialstaat ist mehr wert als er kostet

44. Plenarsitzung der Stadtverordnetenversammlung am 7. Mai 2020

Tagesordnungspunkt 5: Kompetenz-Zuordnung der HGO gilt auch in der Corona-Krise!

Stadtverordnetenvorsteher Stephan Siegler:

Die nächste Wortmeldung ist von Frau Pauli von der LINKEN. Bitte!

Stadtverordnete Dominike Pauli, LINKE.:

Sehr geehrter Herr Stadtverordnetenvorsteher,

sehr geehrte Damen und Herren!

Im Haupt- und Finanzausschuss hat die Koalition am Dienstag mitgeteilt, dass unsere Befürchtungen, die Corona-Kosten würden sozial ungerecht verteilt sein, überflüssig seien. Das kann man glauben, kann man auch nicht glauben. Aber wie ein Plan nicht nur für sozialen Kahlschlag aus CDU‑Kreisen aussehen kann, will ich Ihnen einmal vorlesen. Sie sehen, das Thema treibt mich um. Dazu habe ich etwas Hübsches gefunden. Es geht nämlich um Roland Koch, früher Hessischer Ministerpräsident, heute Professor an der Frankfurt School of Finance and Management. Er hat am 4. Mai 2020 in einem Gastbeitrag in der FAZ Folgendes gefordert: Die ab 2020/2021 für die Automobilbranche verbindlichen Klimaauflagen innerhalb von fünf Jahren wieder aufzuheben, alle deutschen Sonderregelungen bei der Umsetzung der Datenschutzgrundverordnung aufzuheben, die Arbeitszeitvorschriften zu liberalisieren, sodass die Tarifpartner die Rahmenbedingungen jenseits gesetzlicher Detailregelungen in voller Freiheit ausgestalten können. Und wörtlich: „Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass wir alle sehr viel mehr arbeiten müssen.“ Guter Tipp, ganz prima, zum Beispiel für Pflegepersonal, Paketzusteller und berufstätige alleinerziehende Mütter und Väter. Das alles klingt wie von einem gewissen Herrn Merz, der auch noch einmal etwas werden will in der CDU oder mit der CDU und den die Frankfurter CDU ganz besonders unterstützt. Soweit zu dem Thema und meinen Befürchtungen für die sozialen Kosten.

Wir LINKEN sehen das eher wie Hans‑Jürgen Urban vom Vorstand der IG Metall, der in seiner diesjährigen Rede zum 1. Mai feststellte, dass ein verlässlicher Sozialstaat mehr wert ist als er kostet. Da haben sich während der Corona-Krise viele Fragen aufgeworfen. Die Bundesregierung hat empfohlen, sich für 14 Tage Vorräte zuzulegen. Das bedeutet, einen höheren Geldbetrag auf einmal auszugeben. Wie sollten das Hartz IV‑Empfängerinnen und ‑Empfänger schaffen, Rentnerinnen und Rentner mit Grundsicherung oder schmalen Renten, Menschen mit niedrigen Einkommen, die aufstocken müssen? Davon haben wir auch in Frankfurt leider viele. Die haben durch die Pandemie höhere Ausgaben, aber oft geringere Einkommen. Sie können vielleicht ihre Miete nicht mehr zahlen, vielleicht auch ihre Strom- und Gasrechnung nicht. In diesem Zusammenhang hoffe ich, dass sich wenigstens die städtische ABG etwas bezüglich der gestundeten Mietzahlungen einfallen lässt. Masken, Desinfektionsmittel und Ähnliches wurden gebraucht, das kostet auch Geld. Die Tafeln schließen, die Schulmittagessen fallen weg. Dafür kann ich mir mehr kommunales Engagement vorstellen, als es gab.

Es gibt und gab Kontaktsperren und Reiseverbote. Die Grenzen sind zu. Was bedeutet das für die häusliche Pflege, die auf ausländische Pflegekräfte für die 24‑Stunden-Betreuung angewiesen ist? Hat der Magistrat einen Überblick, wie die Problemlage bei der privaten Pflege aussieht? Freitagsabends erfahren Eltern, dass ab folgendem Montag die Krippen und Kitas geschlossen sind. Da waren die Familien ziemlich auf sich selbst gestellt, zwischen den zu betreuenden Kindern und der Berufstätigkeit, selbst wenn Homeoffice möglich war. Bei schulpflichtigen Kindern kam dann noch das Homeschooling dazu und an diesem Punkt werden wir erleben, dass sich die ungleiche Chancenverteilung unter Schülerinnen und Schülern vergrößern wird. Die Schere zwischen Kindern mit Elternhäusern, die sowohl digital als auch analog Hilfestellung geben können und solchen, bei denen das nicht der Fall ist, geht weit auseinander.

Apropos Schule: Schon unter normalen Umständen ist die Hygiene an Frankfurts Schulen teilweise nicht akzeptabel. Defekte und übelriechende Toiletten gibt es immer noch, für Seife und Handtücher und defekte Waschbecken sind die Schulen selbst zuständig. Das hat in den letzten Jahren schon nicht ordentlich funktioniert. Warum dann jetzt? Was ist mit den Menschen, die auf der Straße leben? Sie gehören zur Hauptrisikogruppe, oft mit Vorerkrankungen, ohne Zuhause, in die sie sich zurückziehen können, und überfüllte Unterkünfte. Viele Einrichtungen sind geschlossen oder haben reduziert und der Zugang zu Einrichtungen der Hygiene, wie Wäsche waschen und duschen – letzteres bekommen wir übrigens in dieser Stadt beim Marathon mit vielen Hundert Teilnehmern problemlos hin – wird für sie immer schwieriger.

Nun machen sich nicht nur LINKE Gedanken darüber, ob es nach Corona einfach so weitergehen soll. Der CSU-Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Herr Müller, meint: „Der Immer weiter-, Immer schneller-, Immer mehr‑Kapitalismus der letzten 30 Jahre muss aufhören.“ Und, der Herr Minister hat die Corona‑Krise als Weckruf an die Menschheit bezeichnet, mit der Natur und Umwelt anders umzugehen. Kluge Worte, wie ich meine und letztlich stellen sie auch die Systemfrage. So hat es auch Olaf Brand, Vorsitzender des BUND, und Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Sozialverbands der Paritätische getan, die heute in der FAZ fordern: „Wir brauchen den Aufbruch in eine Gemeinwirtschaft, orientiert an menschlichen Bedarfen und Bedürfnissen.“

Dazu Beispiele: Der Kämmerer erhofft für die Zukunft noch mehr Flüge am Frankfurter Flughafen. Das geht genau in die falsche Richtung. Stattdessen wäre eine staatliche Unterstützung für den Flugbetrieb mit Auflagen, zum Beispiel der drastischen Reduzierung von Inlandsflügen, sinnvoll. Frankreich macht das so, und Kurzstreckenreisen können auch mit der Bahn durchgeführt werden. Die Fahrradbranche, als eine der wenigen, rechnet damit, sehr gestärkt aus der Krise hervorzugehen und der Allgemeine Deutsche Fahrrad‑Club teilt diese Einschätzung. Deshalb sollte auch statt der Abwrackprämie für Autos eine Mobilitätsprämie aufgelegt werden, die auch von Radfahrern und Nutzern des ÖPNV in Anspruch genommen werden kann. Das wäre ein Systemwechsel in der Mobilitätspolitik, das können wir uns nicht nur leisten, den müssen wir uns leisten.

Zweites Beispiel: Im Haupt- und Finanzausschuss wurde auch richtig gesagt, dass wir in dieser Krise alle froh sind, noch Krankenhäuser in der öffentlichen Hand zu haben, dass die Gesundheitsversorgung noch nicht im Ganzen nach dem Prinzip Privat vor Staat läuft. Auch dabei sollten Sie umdenken. Wenn also das Klinikum Frankfurt‑Höchst auch zukünftig keinen Gewinn erwirtschaftet, wird das von Ihnen hoffentlich anders bewertet als bisher, nämlich nicht als Defizit, sondern als unausweichliche Kosten für die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger.

Zum Schluss noch ein Punkt, der mir auch in dieser Pandemie-Diskussion wichtig ist. In den Pandemie-Empfehlungen des Hessischen Städtetages lesen wir: „In nicht dringenden Angelegenheiten empfehlen wir den ehrenamtlichen Mitgliedern der Ortsbeiräte nicht zusammenzutreten.“ Und wir lesen manches über die stark begrenzte Zulassung von Öffentlichkeit und Presse. Trotz aller gebotenen Vorsichtsmaßnahmen halte ich das für genauso überzogen, wie allgemeine Demonstrationsverbote wie bei der Seebrückenaktion. Es schränkt das Informationsrecht der Bürgerinnen und Bürger, auch die Pressefreiheit, ungebührlich ein, damit also die Demokratie. Ich frage, wer definiert, was dringlich ist oder nicht? Dafür müssen andere Lösungen gefunden werden. Ich sage das auch vor dem Hintergrund, dass der Magistrat die Rechte der Ortsbeiräte auch nicht immer für relevant hält.

Zum Schluss noch einmal zum Thema Demokratie: Morgen ist der 8. Mai, 75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus. Dieser Tag markiert auch den Beginn der Nachkriegsdemokratie in der Bundesrepublik. Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn viele von Ihnen die Forderungen, den Tag der Befreiung zum Feiertag zu machen, auch unterstützen würden. Da alle geplanten Veranstaltungen morgen ausfallen müssen, gibt es den Aufruf, an den Stolpersteinen und anderen Orten Kränze und Blumen zur Erinnerung und zur Mahnung niederzulegen.

Die Morde von Hanau sind nicht vergessen. Gerade in Krisenzeiten müssen wir entschlossen den Rattenfängern von rechts Paroli bieten. Als Tag der Befreiung hatte der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker den 8. Mai bezeichnet. Man dürfe nicht „in dem Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen, man dürfe den 8. Mai nicht vom 30. Januar 1933 trennen“, so in der FAZ vom 07.05.2020. Das ist wichtig festzuhalten. Auch deswegen, weil die Partei des Faschisten Höcke immer noch von Niederlage faselt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

(Beifall)

Hier können Sie die Rede als PDF-Datei herunterladen.

Dieser Beitrag wurde unter Dominike Pauli veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.
Nach oben