Antisemitische Diskriminierung in ihrer ideologischen Erscheinungsform erkennen

Plenarsitzung der Stadtverordnetenversammlung am 4. Juni 2020

Tagesordnungspunkt 5: Antisemitismus und religiöses Mobbing an Frankfurter Schulen

Stellvertretende Stadtverordnetenvorsteherin Dr. Renate Wolter-Brandecker:

Vielen Dank, Herr von Wangenheim! Die nächste Wortmeldung kommt von Herrn Kliehm von der LINKE.-Fraktion, ihm folgt Herr Schenk von der BFF-Fraktion. Bitte schön!

Stadtverordneter Martin Kliehm, LINKE.:

Sehr geehrte Damen und Herren!

Es ist eine Tragik der Geschichte, dass wir 82 Jahre nach der Zerstörung der Börneplatz‑Synagoge hier an diesem Ort über Antisemitismus sprechen müssen. Der Magistrat hat dazu einen Bericht abgeliefert und auch einen Aktionsplan erstellt, worin viele allgemeine Floskeln stehen, aber zu der eigentlichen Frage Antisemitismus an Schulen, was sind die Ursachen, wie wird damit umgegangen, konnte er nichts sagen: „Dem Magistrat liegen keine eigenen Zahlen zu antisemitischen Vorfällen an Frankfurter Schulen vor.“ Auch zum Umgang der Lehrkräfte damit hat er keine Erkenntnisse. Das ist bezeichnend für diesen Bericht, dabei ist das so essenziell für dieses Thema.

Im Folgenden wie auch im Aktionsplan konzentrieren Sie sich wieder einmal auf vermeintliche Defizite in der Bildung bei Kindern und Jugendlichen. Man müsse nur etwas über Identität, Partizipation, Religion, Pluralismus und Demokratie reden und schon verpufft Diskriminierung in einem kleinen Logik-Wölkchen. Aus den Perspektiven der Betroffenen, und auch ich verweise auf die Publikation von Professorin Julia Bernstein „Antisemitismus an Schulen in Deutschland“, gehört Antisemitismus an Schulen aber zum Alltag. Im Kontrast zur Wahrnehmung der Betroffenen steht die der nicht-jüdischen Lehrkräfte, in der sich sowohl Defizite im pädagogischen Umgang mit Antisemitismus als auch seine Bagatellisierung und Reproduktion abbildet. Den Erfahrungen der Betroffenen stehen einerseits mangelnde inhaltliche und didaktische Kenntnisse der Lehrkräfte – Frau Ditfurth hat es schon benannt – und andererseits ein Antisemitismus auch unter den Lehrkräften selbst entgegen. Um wirklich etwas gegen antisemitische Diskriminierung zu unternehmen, muss diese aber in ihrer ideologischen Erscheinungsform erkannt, kritisch und jederzeit entschieden zurückgewiesen werden. In der Realität gelingt das nicht. Der Hinweis auf die Verbreitung von Antisemitismus unter Lehrerinnen und Lehrern ist ein Tabu. Die Akteure entziehen sich, in der festen Ãœberzeugung, kein Antisemit zu sein und nicht antisemitisch zu handeln, der kritischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus und ihrer eigenen biografischen, professionellen Beteiligung.

Tatsache ist aber: Antisemitismus manifestiert sich an Schulen. Sich dies einzugestehen, widerspricht dem Selbstverständnis der Institutionen. Antisemitismus wird als abstraktes Problem wahrgenommen, das außerhalb der eigenen Institution, der eigenen sozialen Umwelt oder des eigenen Handlungsradius erfolgt. Herr von Wangenheim hat gerade gesagt, das betrifft die migrantischen Jugendlichen. Das betrifft uns alle. Antisemitismus kann es in der Wahrnehmung der Lehrkräfte nicht geben an einer Schule, die „ohne Rassismus, mit Courage“ ist. Das besagt schon das Schild am Eingang.

In der Studie von Frau Professor Bernstein heißt es: „Damit muss ich mich nicht beschäftigen, weil es hier keine Juden gibt.“ In der Schule gibt es Jüdinnen und Juden nur als Opfer oder in Geschichtsbüchern. Der Umgang mit Antisemitismus ist geprägt von Ignoranz, Abwehr, Relativierung, Täter‑Opfer‑Umkehr oder einer Rahmung als interpersoneller Konflikt, so nach dem Motto: „Jetzt reicht euch einmal die Hände, vertragt euch wieder.“ Aber es ist kein persönlicher Konflikt! Betroffene müssen sich nicht an einen Tisch setzen mit den Tätern.

Tatsächlich beginnt Antisemitismus häufig bei antisemitisch konstruierten Fremdbildern, bei der Zuschreibung an ein vermeintlich homogenes jüdisch‑israelisches Kollektiv und dem daraus abgeleiteten Kontrast zu einer angeblich mehrheitlichen Normalität. Es beginnt in einer Konstruktion einer „Andersartigkeit“ oder „Ungleichwertigkeit“, das in Nichtzugehörigkeit, Exklusion und Abwertung übergeht.

Diese Zuschreibungen bedürfen keiner realen Grundlage. Wie Jean‑Paul Sartre bereits sagte: „Es leuchtet ein, dass der Antisemitismus des Antisemiten von keinem äußeren Faktor herstammen kann. Existierte der Jude nicht, der Antisemit würde ihn erfinden.“ Oder wie Rabbinerin Delphine Horvilleur sagt: „Da, wo ein Jude ist, ist auch der Antisemit nicht weit.“

Wer aufmerksam zugehört hat, wird erkennen, dass es im Othering, in der Exklusion und Abwertung zahlreiche Parallelen zu rassistischer Diskriminierung gibt. Damit bin ich wieder am Anfang meiner Rede: Glauben Sie wirklich, dass in dem Moment, in dem sich Jugendliche nur genügend an die Mehrheitsgesellschaft anpassen und einen Workshop zur Demokratie belegen, ihre Diskriminierung endet? Sie betrachten ein systemisches Problem als ein individuelles. Das Problem heißt Rassismus. Struktureller Rassismus forciert einen als nicht zugehörig markierten Menschen in den Niedriglohnsektor, zu niedrigen Bildungsabschlüssen, zu wenigen Aufstiegschancen, wie meine Kollegin Ayyildiz an dieser Stelle bereits bemerkte.

Diese Diskriminierung der Betroffenen in der Schule, bei der Gymnasialempfehlung, bei der Arbeit, bei der Wohnungssuche, bei rassistischen Polizeikontrollen ist Alltag. Ziel von Terroranschlägen. Und da sind wir wieder bei der Gemeinsamkeit von Antisemitismus und Rassismus. Da hilft es nicht, dass Sie hier Ihre Wohlfühlliste im Aktionsplan abfeiern und damit den Umgang der Lehrkräfte mit Diskriminierung ignorieren, denn dazu hat der Magistrat keine Erkenntnisse, und somit existiert Antisemitismus und Rassismus bei Lehrerinnen und Lehrern nicht.

Racial Profiling bei der Frankfurter Polizei gibt es nicht, wollen Sie uns weismachen, und ignorieren dabei die Erfahrungen der Betroffenen. Die ständig neuen Fälle von Neonazis bei der Polizei und Bundeswehr seien alles Einzelfälle, sollen wir glauben. Doch es gibt bestimmte Berufe, bei denen es nicht ständig Einzelfälle geben darf. Stellen Sie sich vor, die Lufthansa würde sich hinstellen und sagen: Die Mehrheit unser Pilotinnen und Piloten findet Landebahnen wirklich gut. Es sind nur Einzelfälle, die gerne gegen Berge rasen. Genauso verhält es sich mit der Polizei: Wenn unter 1.000 Polizistinnen und Polizisten zehn rassistische und antisemitische sind und die anderen 990 nichts dagegen unternehmen, dann haben Sie nicht zehn schlechte Polizistinnen und Polizisten, sondern 1.000.

(Beifall)

Gerade an dieser Stelle, am Ort der zerstörten Börneplatzsynagoge müssen wir uns bewusst werden, dass Antisemitismus mit aller Macht bekämpft werden muss, und dass es ein gesellschaftliches Phänomen ist. Nur wenn wir dies erkennen und es uns eingestehen, kann es Veränderungen in den Institutionen geben.

Vielen Dank, und greifen Sie sich an die eigene Nase, niemand von uns ist frei davon.

Danke!

(Beifall)

Hier können Sie die Rede als PDF-Datei herunterladen.

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