Sie haben Wohnraum zur Casinoware gemacht

49. Plenarsitzung der Stadtverordnetenversammlung am 5. November 2020

Tagesordnungspunkt 6: Jahrzehnte verfehlter Liegenschaftspolitik aufarbeiten – Wohnungen zurück in die öffentliche Hand

Stellvertretende Stadtverordnetenvorsteherin Dr. Renate Wolter-Brandecker:

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6., Wohnungspolitik, auf. Zu diesem Thema behandeln wir die Vorlage NR 1289 der LINKE.-Fraktion. Die LINKE. hat den Antrag zur Tagesordnung I gestellt, und ich frage, ob es Wortmeldungen gibt. Es gibt offensichtlich eine Wortmeldung, dann dürfen Sie, Herr Yilmaz, auch gleich an das Mikrofon. Bitte!

Stadtverordneter Eyup Yilmaz, LINKE.:

Sehr geehrte Frau Vorsteherin,

meine Damen und Herren!

Ja, es sind besondere Zeiten. Ja, es herrscht Pandemie. Wir müssen Verantwortung für unser Handeln übernehmen und Abstand halten, Masken tragen sowie Hände waschen. Aber andere Probleme bleiben bestehen. Als gewählte Vertreterinnen und Vertreter der Stadt müssen wir die Demokratie am Laufen halten und an die durch Corona entstehenden Probleme denken und handeln. Auch die Menschen, die in anderen Branchen arbeiten, müssen zur Arbeit gehen, und auch das Stadtparlament muss weiterarbeiten. Für die CDU und Herrn Dr. Kößler wäre es gut, wenn wir das Parlament in die Zwangspause schicken, weil sie von der Krisensituation profitieren. Doch wir können uns nicht zurücklehnen und zuschauen, wie viele Menschen wegen der Pandemie in Kurzarbeit gehen oder arbeitslos werden. Kurzarbeit bedeutet weniger Einkommen. Wenn die Bewohnerinnen und Bewohner in dieser Stadt weniger Geld haben, dann können sie die eigene Miete nicht zahlen. Wir wissen, dass die Mieten ungebremst steigen. Abmahnungen und Kündigungen folgen, und das wird durch die Corona-Pandemie verstärkt. Schon vor Corona wurden etwa 500 Haushalte jedes Jahr zwangsgeräumt. Auch diese Situation wird nun verschärft.

Unsere Aufgabe als Stadtparlament ist es, der Situation auf dem Wohnungsmarkt entgegenzutreten. Dafür müssen wir Spekulationen verbieten, sozialen Wohnungsbau stärken und auf Landesebene den Mietendeckel nach Berliner Vorbild fordern.

Meine Damen und Herren, dauerhaft bezahlbare Wohnungen kann nur die öffentliche Hand garantieren. Das wurde in der Vergangenheit versäumt. 41 Liegenschaften mit mehr als 500 Hausnummern gehören der Vonovia, obwohl die Wohnungen gemeinnützig waren. Die Wohnungsbestände ganzer Gesellschaften wurden per Share Deal verkauft. Diese Gesellschaften sind Südwestdeutsche Gemeinnützige Wohnungsbau AG, Wohnbau Rhein-Main, Frankfurter Siedlungsgesellschaft und Teile der GWH. Diese Wohnungsbaugesellschaften waren gemeinnützig und hatten keine gewinn- und profitorientierten Ziele. Wohnen wurde als Menschenrecht gesehen. Deshalb hat die Stadt Grundstücke zur Verfügung gestellt. Sie haben ehemals gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften privatisiert und öffentliche Wohnungsbestände an private Unternehmen verkauft. Heute besitzt Vonovia 11.500 Wohnungen in Frankfurt. Viele dieser Wohnungen waren öffentliches Eigentum.

Sie haben dem Verkauf der Wohnungen damals zugestimmt. Damit haben Sie nicht nur börsennotierte Wohnungsbaugesellschaften und Aktionäre reich gemacht, sondern Sie haben auch Wohnraum zur Casinoware gemacht und so in Frankfurt bezahlbaren Wohnraum vernichtet. Die Wohnsituation in Frankfurt ist katastrophal. 10.000 Haushalte warten dringend auf eine Sozialwohnung. Die Frauenhäuser sind überfüllt. 8.000 Menschen leben in Notunterkünften, darunter Familien mit mehr als 1.000 Schulkindern unter dramatischen Bedingungen, meine Damen und Herren.

Ich weiß, wovon ich rede. In den Not- und Sammelunterkünften leben Familien auf engem Raum. Zum Beispiel lebt eine siebenköpfige Familie in einem Zimmer von etwa 35 Quadratmetern. Aus der FAZ kennen Sie auch die Situation im Jahr 2018, dort wurde auf einer ganzen Seite über eine sechsköpfige Familie in einem 32‑Quadratmeter-Zimmer in einem heruntergekommenen Hotel berichtet. Bis heute hat sich die Situation von dieser Familie nicht geändert. Für die Unterbringung von Obdachlosen zahlt die Stadt pro Person 700 Euro im Monat, aber an eine siebenköpfige Familie einen kleinen Raum für 4.900 Euro zu vermieten, das ist ein Bombengeschäft. Dafür könnte die Stadt vier normale Wohnungen mieten.

Wie geht es diesen Menschen? Wie geht es diesen Kindern in den Sammelunterkünften in der Pandemiezeit? Natürlich will keiner der Verantwortlichen darüber reden. Ich habe selbst gesehen, wie es den Schulkindern beim ersten Lockdown ging – ohne Schulmaterial, ohne Internet, nicht einmal einen Tisch, an dem sie Hausaufgaben machen oder lernen können. Ich möchte hier deutlich machen, dass sich in den Notunterkünften dramatische Szenen abspielen. Wir fordern den Magistrat auf, diese Situation dringend zu ändern, meine Damen und Herren.

(Beifall)

Die Wahrheit kann die Koalition natürlich nicht akzeptieren, aber es geht noch weiter. Jeder Zweite, der in Frankfurt in Mietverhältnissen lebt, hat ein Recht auf eine Sozialwohnung, und zwei Drittel haben ein Recht auf eine geförderte Wohnung. Es wurden kaum soziale Wohnungen gebaut. In den letzten vier Jahren wurden nur 491 Sozialwohnungen gebaut. Dagegen sind Tausende Sozialwohnungen aus der Bindung gefallen. Hauptsächlich wurden hochpreisige Wohnungen oder Luxuswohntürme neu gebaut, und Sie haben das genehmigt.

In den Neunzigerjahren gab es in Frankfurt über 70.000 Sozialwohnungen, davon sind bis heute lediglich 18.000 übriggeblieben, mit fallender Tendenz. Zum Ende des Jahres werden zum Beispiel mehr als 250 Wohnungen alleine im Ostend ihre Bindungen verlieren. Die Stadtregierung hat beim Bau sozialer und bezahlbarer Wohnungen versagt, meine Damen und Herren.

(Beifall)

Die Mieterinnen und Mieter leben in dieser Stadt derzeit im Angstzustand. Sie wissen nicht, wann die nächste Mieterhöhung kommt, und sie bangen um ihre Jobs. Dagegen genießt die Vonovia die niedrigen Zinsen, Pfennigbeträge, die Dividenden steigen, und damit betreibt die Vonovia eine grausame, menschenverachtende Mietenpolitik. Meine Damen und Herren, Vonovia verdient die öffentlichen Grundstücke nicht. Vonovia hat die Verpflichtung, die damals zwischen der Stadt Frankfurt und den öffentlichen Gesellschaften vereinbart wurde, mit Füßen getreten.

Wir fordern den Magistrat auf, die Erbbauverträge frühzeitig zu kündigen und die Grundstücke sowie die dazu gehörenden Wohnungen in die öffentliche Hand zurückzuholen und die Verantwortlichen – einige davon sind noch unter uns – zur Rechenschaft zu ziehen. Ich möchte hier noch einmal deutlich machen: Privatisieren von öffentlichem Eigentum ist Diebstahl, meine Damen und Herren.

Vielen Dank!

(Beifall)

Hier können Sie die Rede als PDF-Datei herunterladen.

Dieser Beitrag wurde unter Eyup Yilmaz veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.
Nach oben