Zu Hause bringt große Ungleichheit mit sich

Plenarsitzung der Stadtverordnetenversammlung am 4. Juni 2020

Tagesordnungspunkt 6: Mehr Hortplätze zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie

Stellvertretender Stadtverordnetenvorsteher Ulrich Baier:

Die nächste Wortmeldung kommt von Frau Dalhoff von der LINKE.‑Fraktion. Danach folgen Frau Luxen und Frau Ross. Frau Dalhoff, Sie haben das Wort. Bitte!

Stadtverordnete Ayse Zora Marie Dalhoff, LINKE.:

Sehr geehrte Damen und Herren,

sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer!

Wie in den zurückliegenden Wochen während der Corona-Krise mit Kindern und Familien umgegangen wurde, ist einfach nur beschämend. Die Kinder, die Eltern, die Familien wurden vergessen. Alles andere wurde geöffnet, die Wirtschaft wurde gerettet, milliardenschwere Pakete wurden zugesichert, aber wochen-, monatelang, seit zwölf Wochen, werden Kinder und Familien einfach alleine gelassen und im Stich gelassen. Das vorneweg.

Die Landesregierung aus CDU und GRÜNEN verkünden einen eingeschränkten Regelbetrieb der Kitas bis zum 2. Juni. Wie schon gesagt, danach wurde die Verantwortung auf die Kommunen und die Träger übergeben. Unsere Bildungsdezernentin ist davon völlig überrascht, hat sie sich doch auf Vorgaben seitens des Landes verlassen. Frau Weber, Sie sind verantwortlich für die Kitas in Frankfurt. Was haben Sie die letzten zwölf Wochen gemacht? Dass die Kitas nicht einfach wieder aufmachen können und alles so läuft wie vorher, ist keine Überraschung. Warum konnten nicht schon längst Frankfurter Richtlinien erarbeitet und sich eine Übersicht darüber verschafft werden, welche Kapazitäten vorhanden sind, wie viele Erzieher gehören zur Risikogruppe, wer kann arbeiten, welche Räumlichkeiten stehen zur Verfügung, und so weiter und so fort.

Ein Konzept am letzten Werktag vor der Öffnung zu veröffentlichen, ist der Verantwortung gegenüber Mitarbeitern und Kindern nicht gerecht geworden. Das Konzept lässt einige Fragen offen, denn so kurzfristig, wie es veröffentlicht wurde, so kurzfristig ist es auch gedacht. Es fehlt ein Überblick über Bedarfe und Ressourcen. Sie haben nur bis zu den Sommerferien geplant, das sind gerade einmal sechs Wochen. Es gibt bis heute keinerlei Informationen zum Thema Eingewöhnung in die Krippe, in Kindergarten und in die Horte. Vollzeit berufstätige Eltern haben mit zwei Betreuungstagen in der Woche noch immer ein Problem, und die Unvereinbarkeit von Familie und Beruf lastet vor allem auf den Schultern von Frauen.

Insgesamt müssen wir darauf achten, dass die Corona-Krise keine Rolle rückwärts für die Emanzipation des Kindes und der Frauen wird. Erstens: Kinder und Jugendliche haben Rechte und brauchen Freundschaft und soziale Kontakte zu anderen Kindern oder Jugendlichen, Familienangehörigen und pädagogische Wegbegleitungen. Sie haben das Recht auf Bildung, wie es Eltern allein gar nicht umsetzen können, denn sie sind keine Pädagogen oder Lehrkräfte. Viele Kinder und Jugendliche in Frankfurt haben es gut zu Hause, aber darüber dürfen wir zwei Dinge nicht vergessen. Zum einen: Viele heißt nicht alle. Gewalt in der Familie ist ein Problem, das mit der Krise und der Isolation und dem Zuhausebleiben wächst. Für diese Kinder und Jugendlichen tragen wir als Gesellschaft eine Verantwortung. Zum Zweiten: Zu Hause bringt große Ungleichheit mit sich. Ein Garten, ein eigenes Zimmer, Computer und WLAN oder Eltern, die in Mathe Neunte‑Klasse‑Niveau erklären können, stehen nicht allen Kindern und Jugendlichen zur Verfügung. Das widerspricht dem auch schon vor Corona nicht eingelösten Versprechen von Chancengleichheit. Das sollte Anlass sein, die Digitalisierung voranzubringen, eigenständiges Arbeiten von Schülerinnen und Schülern genauer zu betrachten und aus den jetzigen Erfahrungen zu lernen, aber auch weiterhin nach Wegen zu suchen, Kontakt zu ermöglichen, denn kein Computer dieser Welt kann einen menschlichen Kontakt ersetzen.

Zweitens: Vor allem für Frauen droht Corona zu einer langfristigen Katastrophe zu werden, bleibt die Arbeit in der Familie doch vor allem an ihnen hängen. Wenn Kinder beschult, betreut, bekocht werden wollen, was ihr Recht ist, dann ist ein 40‑Stunden‑Job, ob im Homeoffice oder außer Haus, nicht mehr drin. Es heißt im Beruf kürzertreten, heißt Konsequenzen bis ins Rentenalter. Das gilt es, in einer gleichberechtigten Gesellschaft zu verhindern.

Drittens: Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern geht weiter, wenn wir uns in den Berufen umschauen, die Frauen besonders häufig ausüben. Die Interessen von Erzieherinnen, Pflegekräfte oder Lehrkräfte dürfen nicht gegen die Bedarfe von Kindern, Jugendlichen und Eltern ausgespielt werden. Ganz im Gegenteil. Pflege- und Sorgearbeit in der Familie und im Krankenhaus sind endlich sichtbar geworden in ihrer Bedeutung für die Gesellschaft. Dem muss deutlich Rechnung getragen werden.

(Beifall)

Noch einmal zusammenfassend: Die Auswirkungen und Folgen der Pandemie sind schon jetzt spürbar und werden uns noch lange beschäftigen. Dabei werden Existenzsorgen, Chancenungleichheit und Isolation psychische Folgen für viele Kinder haben, die noch gar nicht absehbar sind. Das ist ein Thema, bei dem wir jetzt dringend Erkenntnisse brauchen, um mit passgenauen Projekten dort Langzeitfolgen abzufedern. Das sind nur ein paar Beispiele. Die Familien, Kinder und Jugendlichen brauchen Unterstützung. Deswegen darf es im sozialen Bereich keine Einsparungen geben. Schade, dass Professor Dr. Birkenfeld gerade nicht da ist, denn sie hat im Ausschuss für Soziales und Gesundheit versichert, dass es keine Kürzungen gibt, und da nehme ich sie beim Wort.

Der Stellenwert von Familie, Kindern und Jugendlichen muss sich in unserer Gesellschaft ändern. Vor ein paar Monaten haben wir hier noch über ein Jugendparlament gesprochen, von Jugendpartizipation und wie wichtig diese ist, und dann werden Kinder und Jugendliche in der Corona-Krise wie Objekte behandelt – ohne eigene Meinung, ohne Bedürfnisse. Das ist bei den Jugendlichen auch so angekommen. Die Eltern dagegen haben sich Gehör verschafft, um auf ihre und vor allem die Situation der Kinder aufmerksam zu machen. Ich habe mit vielen Eltern gesprochen, die sich vorher nie politisch organisiert haben, aber jetzt werden sie von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Tun wir das auch in der Politik, und zwar sofort und langfristig, denn die Folgen der Pandemie, gerade für Familien und Kinder, werden uns lange beschäftigen. Ihre Interessen sollen mit handlungsleitend werden für den Umgang mit dem Lockdown und den Öffnungen.

Jetzt ist langsam eines klar: Die Pandemie verlangt medizinische Maßnahmen wie Abstandsregeln, Kontakte vermeiden und so weiter. Das wird uns voraussichtlich noch 4eine ganze Weile begleiten, es sei denn, es gibt morgen einen Impfstoff. Das wäre wunderbar. Aber planen sollten wir mit Einschränkungen, für die wir jetzt Kapazitäten schaffen müssen, und an einigen Stellen sollten wir daran arbeiten, dass die Einschränkungen Verbesserungen werden.

Vielen Dank!

(Beifall)

Hier können Sie die Rede als PDF-Datei herunterladen.

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